Menno ter Braak und Klaus Mann, Gegenspieler im 'Emigrantenkomplex' - Zusammenfassung

 

Menno ter Braak. Foto: NIOD

Das Online Magazin Biografieportaal.nl veröffentlichte am 2. Juli 2023 meinen Aufsatz über die gnadenlose Kritik von Menno ter Braak (1) an dem Buch "Flucht in den Norden". Es war Klaus Manns erster Roman im Exil, der im Herbst 1934 beim Querido Verlag in Amsterdam veröffentlicht wurde. Nachfolgend eine Zusammenfassung des Aufsatses.

Redaktion: Renate Schmidt


'Wie konnten Sie nur ein solches Buch schreiben! Für mich bedeutet es, nach ihrem 'Kind dieser Zeit', ein so wesentlicher Schritt rückwarts, dass ich es noch kaum verstehen kann. Ich habe geschrieben, dass die Emigration an Ihnen vorbeigegangen zu sein scheint, und ich habe sprechen müssen von einer immensen Leere. Und tatsächlich, das Buch ist nach meiner Meinung vor allem undendlich leer, öde, ohne innerliche Spannung.'

(Menno ter Braak an Klaus Mann, 23-11-'34. Quelle: Stichting Menno ter Braak/mennoterbraak.nl/brieven)


Angriff von Menno ter Braak auf Klaus Mann und die Emigrantenpresse

Das obige Zitat aus Menno ter Braaks Brief vom 23. November 1934 gab in ihrem gegenseitigen Kontakt den Ton an. War ihre erste Bekanntschaft offen, kollegial und freundlich, so wurde durch die hemmungslose Kritik von Ter Braak an Flucht in den Norden, dem ersten Roman im Exil von Klaus Mann im Amsterdamer Verlag Querido, der gegenseitige Kontakt "schmerzhaft und kompliziert", wie Klaus es später gegenüber seinem Freund Max Brod ausdrückte. (2)

Dieser Brief von Menno ter Braak an Klaus war erst der Anfang. Denn zwei Tage später erschien von ihm in seiner Zeitung Het Vaderland ein Artikel mit dem Titel: "Der Emigrantenkomplex". Seine Kritik an Klaus' Roman verwendete er hierin als Beispiel.

Der Emigrantenkomplex und seine Literatur war nach Ter Braak durch admiration mutuelle, also gegenseitige Bewunderung, gekenzeichnet. Die deutschen Schriftsteller, die aus nazideutschland flohen, und sich in neu gegründeten Monatzeitschriften und Magazinen vereinten, darunter Das Neue Tage Buch und Die Sammlung, rezensierten sich gegenseitig auf eine Art und Weise, die keine Kritik zuliess. Als wäre es allein schon ein Verdienst an sich, Emigrant zu sein. Allerdings, so Ter Braak, "Wir vergessen überhaupt nicht, dass ein grosser Teil der Emigranten, vor der Ankunft Hitlers, Schriftsteller von sehr zweifelhafter Bedeutung waren." Als Negativbeispiel dazu führe er Flucht in den Norden an.

"Emigrantenromane, an denen die Emigration vorbeiging", war der Untertitel des Artikels. "Man ehrt sich gegenseitig, wenn man sich gegenseitig kritisiert", schrieb Ter Braak enige Tage später an Klaus, der verletzt war. (3) Er schrieb André Malraux über Ter Braak, dass er ihn "einen arrogante, unangenehmen und anmassenden Kerl" fand. Und an Max Brood schrieb er: "Ter Braak ist definitiv einer der begabtesten jüngeren niederländischen Schriftsteller, aber er hat die Hysterie, den Eigensinn und die Unsensibilität, wie sie begabte Menschen aus kleinen Ländern oft zeigen." (4) Klaus fand Ter Braak kleinbürgerlich und reizbar.



Ter Braak in Het Vaderland

Positives Urteil von Thomas Mann

Was Ter Braak nicht wissen konnte, war, dass Thomas Mann den Roman zwei Monate zuvor positiv rezensiert hatte. Am 5. September 1934 notierte er in seinem Tagebuch: 'Habe Klaus' "Flucht in den Norden" zu lesen begonnen. Anmutig.' Vier Tage später bemerkte er: 'Lese vorm Einschlafen mit Wohlgefallen Klaus' Roman weiter.' Und am 22. September: 'Schrieb eingehend an Klaus über seinen Roman.' Klaus freute sich über das Urteil eines seiner wichtigsten Leser. Auch sein Onkel Heinrich äusserte sich positiv über das Buch. (5) Ter Braaks Kritik wurde daher für Klaus weniger bedeutsam.

Flucht in den Norden

Der Roman handelt vom Leben in der Illegalität unter dem NS-Regime. Johanna flieht aus Deutschland zu ihrer Freundin Karin nach Finnland, weil ihr Leben in Gefahr ist. Sie ist Teil einer kommunistischen Widerstandsgruppe und wurde zuvor verhaftet. Zwei von Johannas Brüdern haben die Familie auseinandergerissen: Ein Bruder gehört zu Johannas Widerstandsgruppe, der andere ist aktives Mitglied der NSDAP. Ersterer und Johannas Freund fliehen nach Paris. 

Auch in Finnland kommt es zu einer Spaltung einer Familie: Jens tritt einer finnischen Nazi-Partei bei, Ragnar will davon nichts wissen. Als Ragnar und Johanna sich verlieben, steht sie vor einem Dilemma. Wird sie ihrem Herzen folgen und in Finnland bleiben? Oder bleibt sie ihren Widerstandsfreunden treu und folgt ihnen nach Paris? (6)



Menno ter Braak und seine Kritik


Menno ter Braak interpretierte den Roman als Liebesdrama, in dem die Entwicklungen rund um die Emigration aus Nazi-Deutschland lediglich als Hintergrund dienten. Er schrieb dies auch an Klaus. Flucht in den Norden hatte ihn enorm enttäuscht. Er betrachtete den Roman als eine triviale Liebesgeschichte. Allerdings übersah er ein zentrales Thema des Romans: Die Zerrissenheit, die sowohl innerlich als auch körperlich entsteht, weil der Weg zu Familie und Freunden abgeschnitten ist. Diese Zerissenheit führt zu Loyalitätskonflikten, denn man kann seine eigene Haut ja nicht retten, ohne geliebte Menschen zurückzulassen. Klaus beschrieb dieses Dilemma, das er persönlich auch erlebt hatte.

Woher kam die Kritik von Menno ter Braak? Ter Braak war nicht nur seit November '33 Chefredakteur Kultur von Het Vaderland. Ab Januar 1932 war er ausserdem Mitherausgeber des innovativen Literaturmagazins Forum. Für die Redaktion spielte bei der Beurteilung eines literarischen Werkes nicht nur dessen Form eine Rolle, sondern es musste auch die Persönlichkeit des Autors deutlich erkennbar sein. Darüber hinaus musste ein Roman aufrichtig sein oder Zeugnis geben von einem Honnête Homme.

Einer neuen Generation junger Schriftsteller wurde im Forum eine Plattform gegeben. Kritik bedeutete keinen Konflikt. Der Mut, Literatur zu kritisieren, war eine der Säulen der Forum-Herausgeber. Als Menno ter Braak wegen fehlender kritischer Stimmen die gesammte Emigrantenpresse verunglimpfte, darunter auch Klaus' Roman, entsprach dies den Kriterien der Forum Redaktion.

Kosmopolitisch gegenüber dem Honnête Homme

Menno ter Braak könnte man unflexibel und kompromisslos nennen. Er wuchs in einer kleinen Provinzstadt auf, wo sein Vater Dorfarzt war. Die Familie war evangelisch protestantisch. Seine Mutter war in der örtlichen Gewerkschaft der Sozialisten aktiv. Arbeitsmoral und Gerechtigkeitsinn wurde ihm schon in jungen Jahren vermittelt. Mit etwa zwölf Jahren erhielt er eine weitere Ausbildung bei einem kinderlosen Onkel und seiner Frau in einer grösseren Stadt. Nach Abschluss des Gymnasiums ging er auf Kosten der Verwandten an die Universität in Amsterdam. (7) Er lernte das Grossstadtleben kennen, tief im Inneren blieb er aber der christliche Dorfjunge und Sohn des örtlichen Arztes.

Wie anders war Klaus' Hintergrund. Er wuchs in einem grossbürgerlichen, künstlerischen Umfeld auf. Schön früh kam er mit Literatur und Kunst in Kontakt. Es gab Kindermädchen und Hausangestellte. Später lebte er auch in Hotels, Pensionen oder bei seinen Eltern. Stets gab es Personal. Er hatte einen kosmopolitischen Lebensstil und ein kosmopolitisches Auftreten.

Nach dem März 1933 lebte er abwechselnd in Paris und Amsterdam. In einem Tagebucheintrag erwähnte er die Künstlervereinigung Arti in Amsterdam "Klein Schwabing". Irgendetwas an Klaus' Haltung muss Menno ter Braak irritiert haben und umgekehrt. Das Forum-Konzept Honnête Homme sagte Klaus jedenfalls wenig.


Klaus Mann, 1949, Cannes. Foto: Monacensia

Vom Zeitgeist geschlagen, endete es für beide tragisch. Menno ter Braak beging am 15 Mai 1940 Selbstmord. Nach dem deutschen Überfall auf die Niederlande und der Kapitulation sah er keinen anderen Ausweg mehr. Wie Heinrich Mann war er von Anfang an ein aktiver Geger der Nazis. Klaus nahm sich am 21. Mai 1949 in Cannes das Leben.

Sie waren immer höflich zueinander. Die Zeit erforderte kollektives Handeln gegen den Nationalsozialismus. Darüber hinaus waren die Prioritäten von Klaus nicht die von Menno ter Braak.

Margreet den Buurman, Leiden, Sommer 2023


Anmerkungen/Fussnoten:

1. Menno ter Braak, (1902-1940) war Historiker, Schriftsteller und Essayist. Von 1933 bis 1940 war er Chefredakteur Kultur der Zeitung Het Vaderland. Die kulturelle Beilage wurde viel gelesen und war von hohem Niveau. Mit seinen Essays und Polemiken, auch für das innovative Literaturmagazin Forum, entwickelte er sich zu einem massgeblichen und führenden Kritiker in den Niederlanden. Seit der Machtübernahme Hitlers in Deutschland kämpfte er mit der Feder gegen den aufkommenden Nationalsozialismus. 

2. Zitat aus: Léon Hanssen: Menno ter Braak 1902-1940, Leven en werk van een polemist. J.M. Meulenhoff, 2003;

3. Zitat aus: Léon Hanssen, idem;

4. Zitat aus: Léon Hanssen, idem;

5. Thomas Mann: Tagebücher 1933-1934. Herausgegeben von Peter de Mendelssohn. S. Fischer Verlag, 1977. p.522, 524,530,532,550,587;

6. Klaus Mann: Flucht in den Norden. Querido Verlag, 1934;

7. Quelle: Léon Hanssen, idem, siehe oben.


Literatur:

Menno ter Braak: 'Het emigrantencomplex'. In: Verzameld werk, deel V p.354-360. G.A. van Oorschot Amsterdam, 2e dr. 1980;

Léon Hanssen: Menno ter Braak 1902-1940, Leven en werk van een polemist. J.M. Meulenhoff, 2003;

Klaus Mann: Flucht in den Norden. Querido Verlag, 1934;

Klaus Mann: Tagebücher 1934-1935. Herausgegeben von Joachim Heimannsberg, Peter Laemmle und Wilfried F. Schoeller. Edition Spangenberg, 1989;

Thomas Mann: Tagebücher 1933-1934. Herausgegeben von Peter de Mendelssohn. S. Fischer Verlag, 1977. P.522,524,530,532,550,587.

Online Quellen:

Stichting Menno ter Braak: http://www.mennoterbraak.nl/brieven/Klaus Mann/Thomas Mann

DBNL, digitale bibliotheek der Nederlandse letteren: Francis Bulhof, Menno ter Braak, de artikelen over emigrantenliteratuur, 1933-1940. Oorspr. verschenen bij BZZTÔH Den Haag, 1980

DBNL: Tijdschrift Forum, Jaargangen/inhoud